Veröffentlicht in Römische Impressionen

Die nackte Wahrheit im Vatikan

Das Bildhauergenie Gianlorenzo Bernini stellt eine halbnackte weibliche Statue mitten in die wichtigste Kirche der kath.Christenheit! Wie kam es dazu?

Die Statue befindet sich im hinteren Bereich der Peterskirche in Rom.

Grundriss der Peterskirche in Rom

Grabmal von Papst Alexander VII.

Die Statue ist im Grabmal von Papst Alexander VII. eingebettet, das oberhalb der Tür am Ende des linken Seitenschiffs steht. Das beeindruckende Grabmal, das den Papst und mehrere weibliche Figuren zeigt, wurde vom berühmten Protagonisten des römischen Barock, Gian Lorenzo Bernini, zwischen 1672 und 1678 ausgeführt.

Grabmal des Alexander VIIl. Chigi, Peterskirche, Rom

Das Monument gilt als eines der spektakulärsten Beispiele des römischen Barocks, sowohl wegen der Schönheit seiner auf mehreren Ebenen gegliederten Komposition, als auch wegen der harmonischen Kombination der für die verschiedenen Teile verwendeten polychromen Marmorarten.

Das Grabmal wurde, wie üblich, noch zu Lebzeiten des Papstes in Auftrag gegeben. Nach dem Tod des Papstes übernahm nach vielen Jahren und Variationen des Entwurfs der Neffe des Papstes, Flavio Chigi, die finanzielle Last. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Bernini das Grabmal nie von Hand bearbeitet hat, sondern sich auf die Hände anderer verließ, die sich an seine Modelle und Entwürfe halten mussten.

Das Denkmal zeigt Alexander VII. im Gebet kniend. Der Sockel, auf dem er positioniert ist, wird durch ein großes Tuch aus rotem Marmor überragt, auf dem vier weibliche Statuen zu sehen sind, die die Tugenden von Papst Alexander verkörpern.

Die Statuen sind aus weißem Marmor, der in starkem Farbkontrast zum Rot der Draperie aus sizilianischem Jaspis und zum Grün und Schwarz des Marmors steht, der für die architektonischen Teile des Monuments verwendet wurde. Links im Vordergrund ist die Nächstenliebe mit einem Kind im Arm zu sehen, links im Hintergrund die Gerechtigkeit.

Neben ihr ist die Klugheit personifiziert. Auf der rechten Seite im Vordergrund steht die Wahrheit, die mit einem Fuß auf einer Weltkugel ruht; man glaubt, dass sich unter dem großen Zeh der auf England ruht, ein Dorn befindet, der das Leid darstellt, das dem Papst durch die Ausbreitung des Anglikanismus zugefügt wurde.

In der Mitte taucht unter dem Marmorvorhang ein Skelett aus Bronze auf, dessen Kopf noch teilweise verdeckt ist, als wolle es sich davon befreien. In der rechten Hand hält es eine vergoldete Sanduhr, die den langsamen, aber stetigen Fluss des Lebens symbolisiert.

Inhaltlich ist die ursprünglich nackte Figur der Wahrheit in ihrer Bedeutung nicht mit den anderen drei Tugenden vergleichbar, da sie einen hochkomplexen Inhalt symbolisiert.

Alexander VII. hatte die religiöse Kontrolle über Frankreich fast an König Ludwig XIV. verloren und war mit seinem Versuch gescheitert, die europäischen Länder im Kampf gegen die Türken zu vereinen. Solche Misserfolge führten in den letzten Tagen von Papst Alexander VII. zur Demütigung.

Die entblößte Wahrheit ist als Ausdruck einer ungerechten Schande zu sehen. Ihr Fuß ruht auf einer Weltkugel, genauer gesagt auf England, was auf die Versuche Alexanders VII. anspielt, die religiösen Differenzen mit dem protestantisch regierten England auszugleichen.

Für die Deutung der einzelnen Elemente des Grabmals ist es also wichtig, dass die Wahrheit ursprünglich nackt war. Jedoch wird ihr nackter Oberkörper und Schoß auf Anordnung von Papst Innozenz XI. (von 1676 bis 1689 Papst) von einem Stück Bronze bedeckt, das anschließend weiß bemalt wird. So wird die eigentliche Bedeutung der Figur aufgrund moralischer Ansprüche zerstört und die „nackte“ Wahrheit unter einem Tuch verborgen.